Schicht für Schicht durch die Geschichte
Drei Länder, drei Rezepte – und durch Zufall haben sie etwas gemeinsam: Alles wird bei der Zubereitung geschichtet! Damit wird aus den russischen, niederländischen und kurdischen Traditionsgerichten ein perfektes Drei-Gänge-Menü, umrahmt von persönlichen Erinnerungen, Legenden und historischen Begebenheiten.
Foto(s): Henrik Matzen
Olga Schößler-Müller
Das fein gebundene Gesangbuch der Großmutter auf Deutsch, gedruckt in Königsberg (Kaliningrad), steht im Bücherregal – neben ein paar Chroniken für Olgas Ahnenforschung. 1993 zog die junge Lehrerin aus Russland nach Norddeutschland, studierte noch einmal Sozialwissenschaften und begann, in der Beratung von Menschen mit Migrationsgeschichte zu arbeiten. Seit ein paar Jahren hilft sie im Jobcenter Kiel Ukrainern, Arbeit zu finden. Nächstes Jahr geht sie in Rente: „Vielleicht gebe ich Deutschkurse.“
Arjan Meerbeek
Wer in Eckernförde wohnt, kennt Arjan vielleicht als gut gelaunten, aufmerksamen Gastgeber im Brauhaus Land in Sicht. Der Hotelfachmann aus dem kleinen niederländischen Ort Hoog-Keppel lebt seit 33 Jahren in Deutschland, zog vom Schwarzwald über Bielefeld immer weiter Richtung Norden. In seiner Freizeit dreht sich für den Familienvater und ehemaligen Triathleten immer noch viel um Sport – auf dem Rad, im Wasser, mit Turnschuhen an den Füßen oder voll konzentriert über dem Schachbrett.
Sawsan Salim
Ihr Tag muss mehr als 24 Stunden haben: Sawsan arbeitet an zwei Schleswiger Schulen, betreut hier Kinder bei den Hausaufgaben und gibt Französischunterricht. Die Kurdin lebte in der syrischen Stadt Qamischli und studierte französische Literatur in Aleppo – bis sie 2018 mit Sohn und Tochter zu ihrem Mann nach Schleswig zog. Jeden Tag kocht sie für ihre Familie, ist ehrenamtlich in verschiedenen Vereinen engagiert, gibt Sprachkurse und bietet als Museums-Guide interkulturelle Führungen im Schloss Gottorf an.

Dass der Eisschnellläufer Igor Selesowski in den 1980erJahren in den Niederlanden ebenso populär war wie in der Sowjetunion, wissen heute vor allem Sportenthusiasten wie Arjan. Oder Menschen, die das legendäre Eissportzentrum in der einstigen UdSSR bei Almaty (Kasachstan) gut kennen. Wie Olga, die dort studiert hat und spannend aus ihrem Leben erzählt: früher als Deutschstämmige und heute von ihrer Arbeit mit Menschen aus verschiedenen Kulturen. „Für mich ist Herkunft unwichtig. Wichtig ist, dass Leute vorankommen“, sagt sie. Über den großen Esstisch in ihrem Haus in Eckernförde hat sie ein Wachstischtuch gelegt, sodass genug Platz zum Schnippeln, Rühren und Schichten ist. Sawsan hat von zu Hause eine runde Metallform – auf kurdisch Lagan – mitgebracht, in die sie geschickt die dünnen Teigblätter für ihren Nachtisch legt und faltet. „Baklava gibt es bei Kurden zu jedem Familienfest.

Es ist Tradition, dass zur Verlobungsfeier einer Frau die Freundinnen Baklava mitbringen, und zu anderen Einladungen auch“, erzählt sie. Viele machten auch den Teig selbst. „Das ist umständlich und zeitaufwendig. Ich habe das von meiner Großmutter gelernt, die jedes Wochenende für unsere Großfamilie gebacken hat.“ Mit dem Teig aus dem Kühlregal und nur einer Schicht Nüssen ist ihre Variante schnell gemacht. Gekonnt schneidet Sawsan ein Muster in die Schichten – erst Viertel und dann diagonale Linien –, sodass gleichmäßige Rauten entstehen. Währenddessen hat sie Zeit, von ihren mehrsprachigen Museumsführungen zu erzählen. Dabei schlägt sie vom norddeutschen Schloss Gottorf eine Brücke zur Zitadelle in der kurdischen Stadt Erbil.
Arjan hat den Kochtopf, der randvoll mit Kartoffeln, Möhren und Zwiebeln geschichtet ist, bereits auf den Herd gestellt. Nur die Kartoffeln ganz unten sind mit Wasser bedeckt. „Die Möhren und die Zwiebeln darüber garen im Dampf“, erklärt er. „Wir Niederländer haben eine bodenständige, einfache Küche, aber es gibt auch Einflüsse aus Frankreich und Indonesien.“ Bei seinem Gericht spielen sogar Spanien und der 80-jährige Krieg eine Rolle: „Die Stadt Leiden wurde von spanischen Soldaten belagert, alle waren völlig ausgehungert. Um die Gegend zu befreien, wurde sie 1574 geflutet – und die Spanier ergriffen die Flucht.“ Zurückgeblieben seien der Legende nach Reste einer Mahlzeit aus gestampften Kartoffeln, Möhren und Zwiebeln – was das Land im Herbst so hergab.“ Seitdem wird am 3. Oktober in Leiden die Befreiung gefeiert, natürlich mit dem Traditionsgericht Hutspot. „Das ist echt fix gemacht. Es gibt unzählige Variationen und Kombinationen“, berichtet Arjan, während er Kartoffeln und Gemüse, Milch und Butter mit dem Stampfer bearbeitet.
Auch zu Olgas Schichtsalat mit dem lustigen Namen „Hering unter dem Pelzmantel“ finden sich verschiedene Legenden. Zufällig sind wieder Möhren, Kartoffeln und Zwiebeln die Hauptzutaten, die auch im kalten Russland gut wachsen. Um die Geschichte richtig zu erzählen, schaut Olga schnell ins Internet. „Aha, es heißt, ein russischer Restaurantbesitzer habe das Rezept zum Neujahrstag im unruhigen Jahr 1919 kreiert, und zwar als nationales Gericht, das die Menschen vereinen soll. Mit Hering, dem Lieblingsessen der Proletarier, mit Möhren, Kartoffeln und Zwiebeln von den Bauern und dazu mit Mayonnaise vom westlichen Feind als Würze.“ Ihr persönlicher Tipp: Es funktioniert auch mit nur einer Schicht Mayonnaise. Normalerweise fange sie übrigens mit den Kartoffeln unten an, damit beim Portionieren nichts auseinanderfällt. „Heute habe ich mich an das Rezept gehalten“, sagt sie und lacht. „Mal sehen, ob es trotzdem hält!“
Die Baklava ist blättrig-knusprig gebacken. Durch einen Schaumlöffel gießt Sawsan den warmen Zuckersirup darüber. Fertig! Es hat kaum länger als eineinhalb Stunden gedauert, bis die drei ihr leckeres Menü aus drei besonderen, geschichtsträchtigen und dennoch einfachen Gerichten gezaubert haben.
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